Rede zum Volkstrauertag 2024

Als Ortsvorsteher von Fellingshausen begrüße ich Sie und danke Ihnen für Ihr Kommen.
Denn angesichts der jüngsten Entwicklungen sind das Erinnern an die Leiden und Folgen von Krieg wieder sehr wichtig, ebenso wie das Zusammenstehen gegen Hetze, Hass, Falschinformation und Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung.

Krieg kennen wir hierzulande alle nur aus Filmen und Berichten.
Wir sind kaum in der Lage, uns die Angst und das Leid vorzustellen oder gar zu begreifen.
Umso wichtiger ist es, sich diese Schrecken immer wieder vor Augen zu halten, um aus den Erfahrungen unser Vorfahren zu lernen.

Vor nunmehr 110 Jahren fiel der erste Schuss im 1. Weltkrieg;
vor 86 Jahren brannten 1938 in der Reichsprogromnacht die Synagogen;
ein Jahr später begann der 2. Weltkrieg.
Mit dem D-Day begann dann vor 80 Jahren das Ende des Nazi-Regimes von außen.
Im Inneren scheiterte 1944 das Attentat der Widerstandsgruppe um Oberst Graf Schenk von Stauffenberg.

Heute, 79 Jahre nach dem Ende dieses größten menschengemachten Desasters im 20. Jahrhundert,
gedenken wir einerseits all der Opfer von damals, aber auch all der nachfolgenden und aktuellen Opfer von Gewalt, Krieg und Vertreibung.
Zugleich aber müssen wir uns heute auch eingestehen, dass der dritte Weltkrieg mit neuen Formen der Kriegsführung längst begonnen hat.
In der äußeren Welt sehen wir den Kampf der Systeme um die Weltherrschaft.  

In der inneren Welt menschlicher Gedanken – dort wo Kriege beginnen, finden wir, entgegen aller Erfahrung, noch immer die verrückte Vorstellung, das „Böse“, das „Andere“ / die Anderen seien vernichtbar.
Erst wenn das „Gute“ – mit all seinen gezeigten Grausamkeiten und Opfern – gesiegt habe, wäre ein paradiesischer Zustand hergestellt.
Schon an diesem Paradox von Gewalt, die zum Frieden führen soll, erkennen wir den Unsinn solcher Vorstellungen.

Hilfreich wäre es, zu verstehen, dass Polaritäten wie „Gut“ und „Böse“, also die Bewertung, was gefällt oder nicht, lediglich eine notwendige Bedingung unseres Denkens und Benennens ist:
Immer wenn wir einen Unterschied machen, also einen Aspekt von allem, was da ist, aktiv in den Fokus rücken, erzeugen wir in unserer Wahrnehmung einen Vordergrund, etwas Hervorragendes, während zugleich anderes zum Hintergrund und weniger Bedeutsam wird.
Wir erzeugen Differenzen und Ambivalenzen, die tatsächlich nicht existieren und stellen sie als unversöhnliches „entweder-oder“ dar, statt das „sowohl-als-auch“ zu betonen.

Lassen sie mich als Beispiel anführen, dass alle Menschen genetisch zu 99,9 % gleichen sind; mit Bonobos und Schimpansen haben wir zu 98,7 % die geleichen Gene und selbst mit der Banane sind unsere menschlichen Gene noch zu 25 % identisch.
All die Unterschiede, die wir im Alltag der Menschen sehen, entstehen aufgrund unterschiedlicher Nutzung der Erbinformationen. Das wiederum hat mit Umweltfaktoren und Beziehungserfahrungen zu tun.

Der israelische Historiker und Autor Yuval Noah Harari schieb, Kinder seien wie flüssiges Glas, man könne sie ziehen, zu was man wolle, zu Atheisten, Christen, Moslems, Buddhisten, Kommunisten, zu Kriegern, Attentätern oder zu friedliebenden Menschen. All das aus Liebe. Zudem sei der Mensch das einzige Lebewesen, das an Fiktionen glauben kann, wie zum Beispiel an Götter, Staaten, Geld oder Menschenrechte.

Bei all den Unterschieden der zufälligen Herkunft, der Hautfarbe, von Glaubensauffassung oder sexueller Orientierung usw. können wir nur durch Zusammenkommen und einander kennenlernen entdecken, dass alle anderen Menschen sind, wie wir.
Im demokratischen Dialog lässt sich verabreden, auf welchen Grundüberzeugungen und nach welchen Regeln wir leben wollen – oder es wird diktatorisch verordnet und gewaltsam durchgesetzt.
Aber auch alles andere ist Teil eines unteilbaren Ökosystems, ohne dass wir Menschen nicht existieren können. Hierbei geht es oft um Ressourcen und Einflusssphären der Macht, statt um Gemeinwohl.

Heute, in verunsicherten Zeiten des ideologischen Individualismus, der Medien – und mit vielen düsteren Zukunftsprognosen, bröckelt der Zusammenhalt, der Austausch, das Miteinander, das Verbindende,
so dass die gefühlte Sicherheit schwindet.
Die Gruppe, die so denkt wie man selbst, kompensiert da, schafft ein Zugehörigkeitsgefühl, überwindet die Einsamkeit. So entsteht schnell ein „Wir“ oder „Ihr“, wobei das „Böse“ und die „Schuld“, für was auch immer, bei den Anderen verortet wird.

Dabei ist jede solche Diskriminierung, jeder Krieg eine Niederlage des menschlichen Geistes.
Allgemeiner gesagt, ist jeder Kampf ein verlorener Kampf.

Aus dieser Erkenntnis und wegen all der bedrückenden Schicksale, lautet die Botschaft auch dieses Tages wieder: „Nie wieder ist jetzt!“.

Ganz praktisch bedeutet das, Zivilcourage ist kein bloßes Wort, es ist das Lebenszeichen einer menschlichen Gesellschaft.
Das heißt: Keine Toleranz gegenüber Intoleranten, sich Aggressoren ohne Zaudern entgegenstellen; paradoxerweise manchmal auch mit Waffengewalt, um verabredete Grenzen durchzusetzen.
Es heißt aber auch, menschlichem Leid gegenüber nie gleichgültig zu sein und dort mutig einzuschreiten, wo Mitmenschen Hilfe brauchen.

Insofern ärgert mich das Generalisieren so mancher Politiker, die, nach schrecklichen Anschlägen auf unsere Lebensweise oder solche auf Andersgläubige, ganze Landsmannschaften kriminalisieren und den unsachlichen, spaltenden, wie demokratiefeindlichen Stimmen im Lande nachplappern.
Es gilt, genau hinzuschauen und entgegenzutreten, wenn Bürgerrechte ausgehöhlt und Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wir können den Frieden nur bewahren, wenn wir aktiv für ihn eintreten.
Das gilt in der großen Perspektive der Weltpolitik genauso wie im kleinen Rahmen unseres täglichen Lebens.

An dieser Stelle sei an den friedlichen Wandel, an die Wiedervereinigung Deutschlands und das Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren erinnert.

Aber, und da kommen wir auf die Wahrnehmungspsychologie oben zurück:
Es gibt nichts „Gutes“, ohne dass zugleich auch ein „Schlechtes“ mitentsteht – und umgekehrt!
Ohne den Zerfall der UDSSR gäbe es heute keinen Krieg in der Ukraine; ohne die Kolonialgeschichte und die Gräuel des Naziregimes gäbe es kein Israel und heute keinen Gaza-Krieg. usw. usw.

Lassen sie uns einander freundlich entgegenkommen;  lassen wir die Gespräche mit allen nicht abreißen.

Denn die Welt in der wir leben, muss immer wieder neu verabredet werden.
Das schon deshalb, weil jeder nur einen Teil von Ganzen sehen kann und nur ein Zusammentragen mehr Erkenntnis bietet. Ebenso funktionieren Fakten besser als Geglaubtes, um die Welt zu verstehen.
Echtes Begreifen hat dann noch mal eine andere Dimension.

Daher zum Schluss eine Überlegung des deutschen Theologen und Mystikers Johannes Tauler,
der um 1300 n.Chr. schrieb:

Wahrlich, wir sind und wollen und wollten
stets etwas sein, immer einer über dem anderen.
Darum aller Streit und alle Mühe: dass man etwas ist,
dass man groß, reich, hoch und mächtig ist.
Ein jeder will stets etwas sein und scheinen.

Aller Jammer kommt allein davon, dass wir etwas sein wollen.
Das Nicht-sein, das hätte in allen Lebewesen, an allen Orten,
in allen Leuten, völligen, wahren, wesentlichen, ewigen Frieden,
und es wäre das Seligste, das Sicherste und das Edelste,
das die Welt hat.
Aber niemand will daran, weder reich noch arm, weder jung noch alt.

Werden wir es versuchen?

Vielen Dank (Dr. Alfons Lindemann)

Foto: Wickipedia, Breitenbach-Haut-Rhin, Deutscher Soldatenfriedhof, Autor: BlueBreezeWiki